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Eschede, Concorde, Kaprun und die Folgen

Pr.Dr. Armin Willingmann

Gründe und Konsequenzen der Bewältigungskultur
aktueller 
Großschadensereignisse

 

von Prof. Dr. Armin Willingmann

 

 

  Inhalt

1.                       Problemstellung

2.                       Die Attraktivität von Klagen in den USA

2.1.                      Schadensbegriff

2.2.                      Immaterialersatz

2.3.                      Festsetzung von Ersatzbeträgen

2.3.1.                Schadensersatz und soziale Absicherung

2.3.2.                Strafschadensersatz

2.3.3.            Besonderheiten des US-Zivilverfahrens

3.                       „Amerikanisierung“ als Symptom materiellrechtlicher Defizite

3.1.                      Totalreparation (§§ 249 ff BGB)

3.2.                      Schmerzensgeld (§§ 847, 253 BGB)

3.3.                      Schmerzensgeld für Hinterbliebene

3.4.                      Schmerzensgeld und Gefährdungshaftung

4.                           Fazit

                           Anmerkungen

                           Links


 

 

 

1.         Problemstellung

Von Großschäden im Bereich der Beförderung und des Tourismus war die Bundesrepublik jahrelang weitgehend verschont, eine intensivere Auseinandersetzung mit den Abwicklungsmechanismen komplexer Schäden scheinbar entbehrlich. Umso dramatischer wirkten sich jene drei Ereignisse in Öffentlichkeit und Fachwelt aus, mit denen inzwischen jedermann Bilder und Schicksale verbindet: Eschede, Concorde (Paris) und Kaprun.

Im Umfeld dieser drei Ereignisse sind eine Fülle zivil- und strafrechtlicher Probleme zutage getreten, die bislang nicht entschieden sind und die auszubreiten hier leider nicht der Raum ist. Alle drei Fälle weisen aber eine Gemeinsamkeit auf, die heute  - und wohl auch in Zukunft -  symptomatisch sein wird für die Abwicklungspraxis und -rituale bei komplexen Schäden: Innerhalb kürzester Zeit nach dem Schadensereignis wird von Seiten der Geschädigten erwogen, gegen den tatsächlichen oder vermeintlichen Verursacher einen Rechtsstreit in den USA anhängig zu machen und vor dortigen Gerichten Ersatz einzuklagen.

Erst vor wenigen Tagen erschien in der internationalen Presse die Erklärung Ed Fagans, des dem deutschen Publikum schon aus dem Streit um die Zwangsarbeiterentschädigung bekannten amerikanischen Anwalts, der nun auch wegen des Seilbahn-Unglücks von Kaprun im Auftrage Hinterbliebener vor US-amerikanischen Gerichten Klagen androhte. Dieselbe Drohung traf im vergangenen Monat die DEUTSCHE BAHN AG wegen des Zugunglücks von Eschede. Und auch im Falle des AIR-FRANCEConcorde - Unglücks wird diese Option der Geschädigten eine nicht unerhebliche Rolle spielen, ergibt sich hier doch die Klagmöglichkeit in den Vereinigten Staaten bereits aus dem Bestimmungsort des Fluges,  New York (Art. 28 Warschauer Abkommen).

Soviel Stirnrunzeln bisweilen arg dürftige Anspruchsbegründungen hervorrufen, - im Kaprun-Fall verzichtete Ed Fagan zunächst auf jegliche Erläuterung für die Eröffnung des US-Gerichtsstandes - so viele Zweifel auch an der Zulässigkeit dieses  forum shopping“ angebracht sind[1],  so sorgenvoll ist doch der Blick manches Unternehmers, Vorstands oder Geschäftsführers, der konsultierten Anwälte und der  Versicherer auf die Frage gerichtet, ob tatsächlich ein Prozess, gar eine Verurteilung in den USA droht. Sicherlich, man kann sich  - wie jetzt die Geschäftsleitung der Kapruner Seilbahn oder die Vertreter der BAHN AG  -  auf den Standpunkt zurückziehen, dass schon nichts passieren werde und sich die amerikanischen Gerichte für unzuständig erklären müssten.

In Anbetracht der Vielzahl von Opfern, insbes. aber der vielen in Betracht kommenden Verursacher von Großschäden kann indessen niemand wirklich ausschließen, ob sich ein angerufenes amerikanisches Gericht tatsächlich für unzuständig erklären wird. Sind amerikanische Staatsbürger betroffen oder ist das Unternehmen auf dem amerikanischen Markt präsent, so sind die Befürchtungen durchaus angebracht. Ganz zu Recht hat der Kieler IPR-Experte Schack  in einem SPIEGEL-Gespräch darauf hingewiesen, dass amerikanische Gerichte diese Frage sehr großzügig auslegen und die Zuständigkeit weithin in das Ermessen des Richters gestellt wird.  

Und Koll. Schmid hat soeben auf eine Besonderheit des künftigen Luftverkehrsrechts aufmerksam gemacht:  Nach dem das Warschauer Abkommen ablösenden Abkommen von Montreal wird jeder Bürger zukünftig sein (Schadensersatz-)Recht gleichsam im Reisegepäck mit sich führen, räumt ihm doch das Abkommen den zusätzlichen Gerichtsstand seines Wohnsitzes ein. Dies wird namentlich für US-Staatsangehörige besondere Bedeutung erlangen. Ändert sich damit zunächst auch noch nichts hinsichtlich des anwendbaren Rechts, so darf nicht verkannt werden, wie bereitwillig US-Gerichte Rückgriff auf die eigene Rechtsordnung nehmen, wenn ihnen die (Ersatz-)Regelungen vereinheitlichten oder ausländischen Rechts unangemessen erscheinen.

Wenn wir diese durchaus als „Amerikanisierung“ zu bezeichnende Entwicklung aus der Sicht der Großschadensforschung betrachten, so ist sie freilich keineswegs neu; sie erreicht nur in jüngster Zeit auch den Bereich der Verkehrs- und Tourismuswirtschaft und tritt durch Ereignisse, bei denen in größerem Umfange deutsche Staatsbürger betroffen sind, deutlicher ins allgemeine Bewusstsein.[2]

Aus den dabei diskutierten, auch die rechtspolitische Debatte bestimmenden Aspekten möchte ich einige wenige auswählen und hier kurz vorstellen. Die Tatsache, das immer öfter nach den USA geschaut und eine Klage dort erwogen wird, scheint mir nämlich  - bei aller Kritik der durch die Tagespresse hinlänglich bekannten „Schadensersatz-Exzesse“ – auch ein Symptom für Defizite bestehender nationaler wie internationaler Regelungen zu sein. Zugleich wird die Klagerhebung in den Vereinigten Staaten aber häufig auch von irrationalen Vorstellungen über das US-Recht, seine Möglichkeiten und Wirkungsbedingungen getragen – und dies ist für alle Beteiligten nachteilig.

 


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2.         Die Attraktivität von Klagen in den USA

Im Bereich komplexer Schäden erscheint es besonders Erfolg versprechend, einen Gerichtsstand in den USA zu finden, der ermöglicht, Ansprüche durch dortige Gerichten entscheiden zu lassen. Was sind eigentlich die Gründe für diese Art der „Amerikanisierung“[3], was gibt es für Vorzüge, die diese Magnetwirkung auslösen? Lassen Sie mich dafür nur kursorisch einige Besonderheiten des US-Rechts auflisten, wobei es selbstverständlich problematisch ist, von dem amerikanischen Recht zu reden, handelt es sich doch um ein Nebeneinander von Bundes- und Einzelstaatenrecht.

 

2.1.           Schadensbegriff

Auch in den USA ist das Schadensersatzrecht grundsätzlich vom Kompensationsprinzip beherrscht, geht aber bereits bei der Zuerkennung so genannter nominal damages, also Ersatzansprüchen ohne tatsächlichen Schaden, über die in Deutschland herrschenden Vorstellung vom Schaden hinaus.[4] Hinzu tritt, dass das US-Recht zwar auch die Unterscheidung von materiellen und immateriellen Schäden kennt, beide Fälle aber unter die compensatory damages subsumiert und schon deshalb die Voraussetzungen nicht derart eng trennt, wie wir das aus Deutschland gewohnt sind. Mit anderen Worten: Schon der Begriff des Schadens geht in den USA sehr viel großzügiger als wir uns das hier vorstellen. Vor dem Hintergrund der häufig durch Laienrichter (jury trial) festzusetzenden Ersatzbeträge  - dazu sogleich -  wirkt sich dies naturgemäß besonders drastisch aus.

Bisweilen wird sodann auch auf die enge Zuordnung von Rechtsgutträger und Geschädigtem  - unerlässliche Voraussetzung unserer deutschen Haftungsmodells -  verzichtet. Besonders deutlich ist dieser Unterschied bei der Abwicklung von Großschäden im Umweltbereich geworden.[5] So hat die amerikanische Justiz keine Schwierigkeiten damit gehabt, nach dem Tankerunfall der EXXON VALDEZ (1989) vor der Küste Alaskas dem Verursacher EXXON auch den Ersatz des so genannten ökologischen Schadens aufzuerlegen, also jener Schäden an Fauna und Flora, für die es prima facie keinen Rechts(gut)träger gibt. 

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang, dass sich in der vergleichbaren Situation des SANDOZ-Rheinunfalls (1986) die deutschen Gerichte mangels materieller Anspruchsgrundlage außerstande sahen, einen solchen Ersatz zuzusprechen. Und nur der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass auch 1986 nach der Katastrophe von Tschernobyl ein allgemeiner Öko-Schaden mangels Rechtsträgers nicht erstattungsfähig war. Nur am Rande: Kein Land Westeuropas hat seinerzeit überhaupt keine Ansprüche gegenüber der damaligen Sowjetunion geltend gemacht, die geschädigten landwirtschaftlichen Betriebe wurden durch ihre nationalen Regierungen entschädigt.[6]

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2.2.           Immaterialersatz

Ebenso offen wie sich das amerikanische Recht gegenüber dem Schadensbegriff verhält, wird auch der Immaterialschadensersatz verstanden. Nicht nur körperliche Schmerzen, sondern jegliches Seelenleid  - auch ohne pathologischen Befund -  ist grundsätzlich ersatzfähig und anspruchsbegründend. Ohne Zweifel verstehen Amerikaner darunter auch das Unglück des Verlustes von Angehörigen, also ein Schmerzensgeld für Hinterbliebene. Diese Vorstellung ist  dem deutschen Zivilrecht  - freilich keineswegs unseren europäischen Nachbarn -  fremd. Darauf wird noch zurück zu kommen sein.

 

2.3.           Festsetzung von Ersatzbeträgen

Die bisweilen zugesprochenen (Ersatz-)Beträge fallen unbestreitbar hoch aus und sind mit kontinentaleuropäischen Maßstäben nicht vergleichbar.[7] Die Gründe dafür sind vielschichtig, zwei Aspekte verdienen aber besondere Beachtung:

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2.3.1.     Schadensersatz und soziale Absicherung

Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz und für die betroffenen Unternehmen wenig tröstlich, wenn erklärt wird, dass die Amerikaner sich selbst als litigious society bezeichnen und in den USA das Haftpflichtrecht regelmäßig auch die unzureichende Sozialversicherung ersetzt. Auch dürfte hinlänglich bekannt sein, dass Versuche der Clinton-Administration, diesen Rechtszustand zu verbessern und das System der sozialen Absicherung zu stärken, jämmerlich gescheitert sind. Das so bestehende gesamtpolitische Defizit wird in den USA konsequent auf den Schädiger abgewälzt. Die in Deutschland in Folge des Solidarprinzips der Sozialversicherung im Zweifel der Allgemeinheit anfallenden Kosten werden also in den USA beim jeweiligen Schadensversursacher liquidiert. Das ist in sich durchaus stimmig, bedeutet aber einen Kulturunterschied, der wechselseitig auf Unverständnis stößt.

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2.3.2.     Strafschadensersatz

Innerhalb des Schadensersatzrechts steht das US-Recht wesentlich offener als das deutsche Recht zu Straf-, Vergeltungs- und Präventionsfunktionen. Für sein besonders vorwerfbares Verhalten soll der Schädiger bestraft werden; zugleich diene dies der Abschreckung für Dritte.[8] Ohne Hemmungen wird der Schadensersatz danach bemessen, wie leistungsfähig der Schädiger ist, dass das Opfer Genugtuung erfährt, der Verursacher pönalisiert und so auch die Allgemeinheit vor künftigem Fehlverhalten geschützt wird.[9] Besonders drastisch fallen die so zuerkannten Summen aus, wenn im Rahmen des Verfahrens auf Strafschadensersatz, die so genannten punitive damages, erkannt wird. Nach dem Recht der meisten Einzelstaaten der USA werden „exemplary and punitive damages“ ausgeurteilt, wenn dem Täter als erschwerender Umstand zu einem allgemeinen Haftungstatbestand ein absichtliches, bösartiges oder rücksichtsloses Fehlverhalten vorgeworfen werden kann. In jüngeren Entscheidungen reicht schon bewusst fahrlässige, offenkundige Missachtung allgemeiner Sicherheitsinteressen. Einer Systematik ist dieses Modell kaum zugänglich[10], die Entscheidung liegt regelmäßig im Ermessen des Gerichts.

Werfen wir einen Blick auf die amerikanische Literatur und Rechtsprechung, so finden sich verschiedene Begründungen für das Institut der „punitive damages“. Sie sollen mal eine Strafe für besonders rohes Verhalten sein, um Racheakte des Opfers entbehrlich zu machen. Auch will man Verursacher und Allgemeinheit präventiv von künftigem sozialschädlichem Verhalten abhalten, wenn durch die reine Ersatzleistung keine oder nur unzureichende Verhaltenssteuerung  erwarten lässt. Schließlich stehe dem Geschädigten für die auf seinem Einsatz beruhende Rechtsdurchsetzung  - zur Stärkung der Rechtsordnung -  eine angemessene Geldsumme zu. Dieser Katalog unterschiedlicher Begründungen führt regelmäßig zu dem bekannten Vollstreckungsproblem US-amerikanischer Entscheidung in Deutschland.[11] Darauf kann hier leider auch nicht weiter eingegangen werden.

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2.3.3.     Besonderheiten des US-Zivilverfahrens

Die Problematik des Strafschadensersatzes ist untrennbar mit einigen Besonderheiten des US-Zivilprozessrechts verbunden, das bis auf den heutigen Tag neben der allein richterlichen Streitentscheidung das so genannte Jury-System kennt. Es entscheidet also gerade bei Schadensersatzklagen häufig ein Laiengremium über die Verschuldensfrage; zumeist darf dieses Gremium zugleich  über die Verhängung wie auch die Höhe von punitive damages befinden. Dass in solchen Laien-Gremien eine größere Bereitschaft zur Verhängung höherer Schadensersatzbeträgen besteht als bei Berufsrichtern bedarf keiner tiefenpsychologischen Untersuchung.

Hinzu tritt die so genannte American rule, nach der jede Partei ihre Gerichts- und Anwaltskosten selbst zu tragen hat, auch bei Obsiegens also in jedem Falle mit einer negativen Kostenfolge rechnen muss; zugleich müssen aber im Falle des Verlierens keine zusätzlichen Kosten getragen werden. Zudem sind die Gerichtsgebühren in den USA verhältnismäßig gering. Dieses  - inzwischen zaghaft in die Diskussion geratene[12] -   Modell ist der Grund für die litigious society, als die sich viele Amerikaner selbst bezeichnen.

Außerdem darf das in Deutschland gesetzlich verbotene, in den USA aber bestehende System der erfolgsabhängigen Vergütung des Anwalts (contingent fee) bei der Höhe der geltend gemachten Schadensersatzbeträge nicht vergessen werden. Sie stellt fraglos einen Anreiz für drastische Forderungen dar, partizipiert doch der Rechtsvertreter unmittelbar an der Höhe der erstrittenen Summe. Es ist unverkennbar, dass die Höhe der tatsächlich erstrittenen Schadensersatzbeträge zugleich auch daran orinetiert ist, dem Geschädigten nach Abzug des Anwaltshonorars mindestens einen für den tatsächlichen Ausgleich erforderlichen Geldbetrag zu belassen.[13]

Es war übrigens ein Großschaden, der Auswüchse dieses Systems in aller Welt verdeutlicht hat, als nach der Explosion in einer Fabrik im indischen Bhopal (1984) eine Giftgaswolke austrat und Tausende von Bewohnern der umliegenden Elendsviertel getötet oder schwerst verletzt wurden.[14] Bereits am Tag nach dem Unfall reisten die ersten amerikanischen Anwälte nach Indien und ließen sich von Geschädigten Vollmachten erteilen, um den Betreiber des Unternehmens, die Union Carbide Ltd. (Sitz: Indien) in den USA (Sitz der Muttergesellschaft) zu verklagen. Selbst für das robuste amerikanische Verständnis von Anwaltswerbung und Engagement erschien dies als Exzess und hat zu der gesetzlichen Anordnung eines vierwöchigen Akquiseverbots durch die Anwaltschaft geführt.

Die hier nur angerissenen Punkte erklären die Anziehungskraft des US-Rechts, zumindest aber eines US-Gerichtsstands. Gleichwohl sind durchgreifende Erfolge der Kläger keineswegs gesichert; weit über 90% der Klagen werden vergleichsweise erledigt – oftmals von den Unternehmen allerdings deshalb, um eine drohende Verurteilung zu (Straf-)Schadensersatz zu umgehen. Freilich  - und dies wird die betroffenen Unternehmer kaum beruhigen -  sind die vergleichsweise in den USA gezahlten Beträge immer noch erheblich höher als in Europa.

So bedrohlich dieses System auch im ersten Moment erscheint, so deutlich sind die Anzeichen in den USA selbst, hier eine Trendwende einzuleiten. Zwar sind in der vergangenen Legislaturperiode gesetzgeberische Versuche gescheitert, an punitive damages strengere Anforderungen zu stellen – übrigens am Veto des damaligen US-Präsidenten Bill Clintons. Zugleich besteht aber sowohl für den streitentscheidenden Richter als auch für den Supreme Court die Möglichkeit, den von der Jury zuerkannten Strafschadensersatz zu mindern oder gar für verfassungswidrig zu erklären. Auch besteht die Möglichkeit, punitive damages der Staatskasse und nicht dem Kläger anheimfallen zu lassen. Von der Problematik der Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidungen in Deutschland und zahlreichen anderen Staaten ganz zu schweigen.[15]

 


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3.         „Amerikanisierung“ als Symptom materiellrechtlicher Defizite

Lassen Sie mich in einem zweiten Abschnitt das US-Schadensersatzrecht einmal nicht als Bedrohung für die Unternehmensseite betrachten, sondern als Symptom für Fehlentwicklungen im (nationalen wie internationalen) Recht.

Plakativ lässt sich durchaus sagen: Das materielle Schadensersatzrecht scheint den Ansprüchen der Geschädigten oder Opferseite in Deutschland nicht mehr zu genügen. Fügte man sich noch vor zehn Jahren in die geltende Rechtslage der deutschen Rechtsordnung, so fehlt es meines Erachtens im Schadensersatzrecht an vergleichbarer Akzeptanz dieser Regelungen. Wie so viele Aspekte unseres Wirtschaftslebens hängt auch dies mit der Globalisierung zusammen, diesmal freilich in ihrer medialen Form. Schäden, Unglücke, Katastrophen begegnen uns täglich in Fernsehen, Funk und Printmedien. Schon kurze Zeit nach dem Ereignis kommen Anwälte und Versicherungsfachleute zu Wort, sehr rasch wird  - auch schon vor eingehender Prüfung des Sachverhalts -  Schadensersatz gefordert. Wir alle kennen die hilflose Reaktion von Verantwortlichen wie Politikern, die dann zunächst eine „rasche und unbürokratische Hilfe“ versprechen und „rückhaltlose Aufklärung der Ursachen“ einfordern. Konnte man früher davon ausgehen, dass das Medieninteresse nach einigen Tagen nachließ, so begleiten Rundfunk wie Zeitungen inzwischen nahezu den gesamten Abwicklungsprozess. Verständlicherweise werden hier  - namentlich bei komplexen Schäden -    die Medien instrumentalisiert und zur öffentlichkeitswirksamen Verbreitung der Ersatzforderungen genutzt. Inzwischen gibt es auch in Deutschland eine kleine Schar besonders medienpräsenter Rechtsanwälte, die es hervorragend verstehen, auf dieser Klaviatur zu spielen.

Um nun aber Defizite des deutschen Rechts aufzuzeigen, bedarf es in erster Linie einer klaren Vorstellung vom Modell des Schadensersatzes, wie wir es in der Bundesrepublik kennen.

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3.1.     Totalreparation (§§ 249 ff BGB)

Es ist in diesem Kreise nicht erforderlich, die einzelnen Elemente des  Schadensersatzrechts nachzuzeichnen. Bekanntlich sind die Grundsätze der Naturalrestitution und der Totalreparation ihr zentraler Gegenstand. Der Geschädigte hat einen Anspruch auf die vollständige Wiederherstellung des Zustandes, der vor dem schadenstiftenden Ereignis vorhanden war. Dieser Punkt ist regelmäßig auch bei Großschäden nicht im Streit, wenn man die häufigen Beschwerden über zu langwierige, bisweilen arg pedantische Abwicklungen einmal unbeachtet lässt. Weit stärker in der (öffentlichen) Diskussion ist die Gewährung von immateriellen Schadensersatz, von Schmerzensgeld.

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3.2.     Schmerzensgeld (§§ 847, 253 BGB)

In nahezu allen Großschadensverfahren wird über die Angemessenheit des Schmerzensgelds lang anhaltend gestritten. Dies zeigt auch die jüngste Entwicklung in Sachen ICE-Unglück von Eschede.

Vor wenigen Tagen ist ein „Ultimatum“, das der Anwalt der Interessengemeinschaft der Eschede-Geschädigten der Deutschen Bahn gestellt hat, (erfolglos) abgelaufen. Innerhalb dieser am 28.2.01 abgelaufenen Frist war die BAHN AG aufgefordert worden, für jedes Todesopfer des Eschede-Unglücks an die Hinterbliebenen ein Schmerzensgeld von 550.000,-- DM zu zahlen. Wohl gemerkt: Es geht ausschließlich um Schmerzensgeld für die Hinterbliebenen; die Abwicklung der konkreten Schäden durch die BAHN AG ist zurzeit  - jedenfalls nach Aussagen des verantwortlichen Ombudsmans Krasney -  nahezu abgeschlossen bzw. erfolgreich in Gang gesetzt; das Unternehmen hat hier  - nach eigenen Angaben -  insgesamt rd. 40 Mio. DM aufgewendet, davon rd. 7 Mio. DM Schmerzensgeld für die Geschädigten.[16]

Das nunmehr geforderte Schmerzensgeld hat der Rechtsvertreter der Eschede-Geschädigten übrigens dadurch ermittelt, dass er den Anschaffungspreis eines ICE von rd. 60 Mio DM durch die Anzahl der Todesopfer des Eschede-Unglücks geteilt hat.

Die BAHN AG ist der Forderung nach Pressemeldungen schon vor Ablauf des Ultimatums unter Hinweis auf den Betrag von 30.000 DM, der für jeden Toten gezahlt worden war, entgegengetreten. Mit dieser Zahlung  - so die BAHN-Vertreterin Suckale -  bewege man sich schon außerhalb des gesetzlich Geforderten und sehe für weitere Zahlungen keinen Anlass. Die mit der Drohung der Klagerhebung in den USA verbundene Anspruchsanmeldung wie auch die Reaktion der BAHN AG offenbaren ein Stück weit das Krisenmanagement oder die Bewältigungskultur, wie wir sie zur Zeit nicht nur in Deutschland erleben.

Ganz fraglos soll hier der für erforderlich erachteten Druck auf die Regulierungs- oder Vergleichsbereitschaft erhöht werden. Dabei kann zunächst einmal völlig dahingestellt bleiben, ob der Anspruch berechtigt oder eine Klage in den USA überhaupt zulässig ist. Die bislang mitgeteilten Gründe für einen Gerichtsstand in den USA erscheinen jedenfalls ziemlich mager.

Aber auch die Reaktion, die Wagenburgmentalität der BAHN AG, ist nicht sonderlich glücklich, unter dem Gesichtspunkt des Krisenmanagements sogar ziemlich ungeschickt. Zwar ist ihr zuzugeben, dass das deutsche Recht einen Schmerzensgeldanspruch bei Gefährdungshaftungstatbeständen cum grano salis (noch!) nicht kennt und deshalb das Haftpflichtgesetz von den Verantwortlichen durchaus zutreffend angewendet wird.

Dies ist freilich kein sanftes Ruhekissen, da bis heute   - und das gilt für fast alle Großschadensfälle -  nicht ausgeschlossen werden kann, dass die BAHN AG auch unter Verschuldensgesichtspunkten in Anspruch genommen wird, so dass das Tor für Schmerzensgeldansprüche über die Anwendung der §§ 823 ff, 847 BGB offen steht.

Damit ist aber das von Hinterbliebenen aufgeworfene Problem  - oftmals zum allgemeinen Unverständnis -  noch nicht gelöst. Denn die Anspruchsteller erheben hier Ansprüche, denen die deutsche Rechtsordnung bislang unabhängig von der Regel des § 847 BGB  außerordentlich ablehnend gegenübersteht. Um es klar zu sagen: Das deutsche Recht kennt nur in sehr engen Ausnahmefällen die Möglichkeit, Schmerzensgeld für den Verlust eines Angehörigen zu erhalten.  Das österreichische Recht ist insoweit  - und dies sei mit Blick auf die Kaprun-Katastrophe gesagt -  ähnlich restriktiv. Nicht nur bei Betroffenen erzeugt diese Rechtslage allerdings Unverständnis, das durch die Kenntnis der andernorts gewährten Schmerzensgeldbeträge noch verstärkt wird. Hierzu sei nur ein Hinweis erlaubt: Es ist zu erwarten, dass die Hinterbliebenen der Opfer des CONCORDE-Absturzes eine erheblich höhere Entschädigung erhalten werden.

Die derzeitige Abwicklung einiger Großschäden wirft also zwei grundlegende Probleme des materiellen Rechts auf: Schmerzensgeld für Hinterbliebene und Immaterialersatz auf Grundlage eines Gefährdungshaftungstatbestandes, denen ich mich zum Schluss zuwenden möchte.

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3.3.     Schmerzensgeld für Hinterbliebene

In Deutschland beschränkt  § 253 BGB den Immaterialschadensersatz auf die wenigen, im Gesetz geregelten Fälle. Schmerzensgeld für den Verlust eines Angehörigen gehört nach klassischer deutscher Doktrin nicht dazu. Die Begründung dafür liegt u.a. in einer heute schwer vermittelbaren, gleichwohl konsequent zitierten Formel: Immaterielle Schäden sollen nicht kommerzialisiert werden!

Ob dies noch eine zeitgemäße, gar zutreffende Begründung ist, wage ich zu bezweifeln und erlaube mir eine durchaus unsachliche Anmerkung: Anderer Menschen Leid, Unglück oder Schaden ist doch mit Blick auf die Medien längst zu einer kommerziellen Ware geworden. Fotos über Katastrophen sind Handelsware, Interviews mit Betroffenen entgeltpflichtig, permanente Berichterstattung über Unglücksfälle sichert Einschalt- und Umsatzquoten. Es wirkt auf Laien wie Hinterbliebene wenig überzeugend, wenn zwar gute Geschäfte mit Katastrophen gemacht werden können, ein Schmerzensgeld für den Verlust von Angehörigen aber nur unter extremen Voraussetzungen in  - seien wir ehrlich -  sehr bescheidener Höhe zu zahlen ist.[17] Verständlicherweise mag da mancher Geschädigte in die USA schauen und ungläubig staunen, wenn dort von Schmerzensgeldbeträgen in mehrfacher Millionenhöhe die Rede ist.

Erstaunlicherweise muss der Betroffene aber gar nicht in die USA schauen, um für dieses Problem eine andere, opferzentrierte Lösung zu finden. Sowohl in der Schweiz als auch in Frankreich, in Belgien, Spanien, Italien und Griechenland sowie   - mit kleinen Einschränkungen -   ebenso im Vereinigten Königreich gehört das Schmerzensgeld für den Verlust von Angehörigen zum gefestigten Bestand der Zivilrechtskultur. Der Europarat hat bereits 1975[18] Deutschland empfohlen, seine Regelung dieser Entwicklung anzupassen und insbesondere den Eltern-, Partner- und Kinderschutz zu verbessern, soweit diese Personen zur Zeit der Tötung des Geschädigten enge Gefühlsbeziehungen zu ihm gehabt haben.[19] Die Empfehlung wurde in der Folgezeit kaum beachtet.[20]

Wenn hier unter dem Eindruck aktueller Großschäden erneut eine Novellierung angeregt wird, so geht es meines Erachtens auch darum, einen schwer erträglichen Wertungswiderspruch zu überwinden, der offenbar auch den Gerichten nicht behagt. Es ist nur schwer vermittelbar, dass im Rahmen der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts die Ersatzansprüche, die durch richterliche Rechtsfortbildung entwickelt und ebenfalls auf § 847 BGB gestützt werden[21], inzwischen drastische Höhen erreichen, die anspruchstellenden Hinterbliebenen bei Drittschädigung aber, sofern sie keine erhebliche eigene Gesundheitsverletzung nachweisen können, in diesem Punkte weithin leer ausgehen. Man kann dem Unverständnis gegenüber die Differenzierung nicht damit begegnen, dass der Zweck der Entschädigungsleistung bei Persönlichkeitsrechtsverletzung auch in der Sanktion unrechtmäßigen Verhaltens und der Abschöpfung von damit erwirtschafteten Gewinnen besteht. Es bleibt Immaterialersatz. Ebenso wenig überzeugt der Hinweis darauf, dass Leben grundsätzlich nicht zu bewerten und der Verlust eines Menschen eigentlich stets unersetzlich sei. Die in den Nachbarstaaten praktizierte Regelung einer (Quasi-)Pauschalierung des Hinterbliebenenschmerzensgelds zeigt sehr deutlich, dass es in erster Linie nicht um Kompensation des Schmerzes geht, sondern um die Anerkennung dieser psychisches Extrembelastung als tiefen Einschnitt in das Leben. Dessen Gleichstellung mit der ebenfalls einen Einschnitt darstellenden Verletzung des Persönlichkeitsrechts ist längst fällig. Eine Anpassung an unsere Nachbarstaaten würde hier fraglos die Akzeptanz der Rechtsordnung stärken und dem „westwärts Streben“ der Geschädigten entgegenwirken.

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3.4.     Schmerzensgeld und Gefährdungshaftung

Die bereits angesprochene Sperre des § 253 BGB greift zurzeit auch noch für nahezu den gesamten Bereich der Gefährdungshaftung. Mit Ausnahme sehr weniger Spezialregelungen (etwa § 833 BGB) kennt das deutsche Haftpflichtrecht bei Tatbeständen der Gefährdungshaftung keinen Immaterialschadensersatz[22].

Man muss nicht Vertreter von Hinterbliebenen sein, um diese Regelung für problematisch zu erachten. Bereits im Gutachten für den 62.Deutschen Juristentag 1998 in Bremen  - das Eschede-Unglück lag erst einige Wochen zurück -   hat Christian v. Bar den Ausschluss von Schmerzensgeld im Rahmen der Gefährdungshaftung für eine „Streichposition bei der Vereinheitlichung des europäischen Schadensersatzrechts“ angesehen.[23] Diese Auffassung war seinerzeit schon nicht revolutionär; bereits das Reichsgericht hatte angemerkt, dass eine derartige Differenzierung an sich nicht zwingend und durchaus unverständlich sei[24]; ebenso hatte der 45.Deutsche Juristentag 1964 eine Erweiterung des Schmerzensgeldanspruchs gefordert. Für den Bereich der Halterhaftung im Straßenverkehr hatte auch der 33. Verkehrsgerichtstag 1995 eine Reform angeregt und entsprechende Korrekturen 1998[25] und 2000 erneut vorgeschlagen.

Der Gesetzgeber scheint jedenfalls in diesem Punkte nun ein Einsehen zu haben. Seit dem 20.2.2001 liegt der Referentenentwurf eines 2. Schadensersatzänderungsgesetzes vor, der u.a. vorsieht, die bisherige Beschränkung von Schmerzensgeldzahlungen auf Fälle der Verschuldenshaftung aufzugeben, und sowohl die Gefährdungs- als auch die Vertragshaftung einzubeziehen. Für die Unternehmen, die bislang bei bestehender Vertragsbeziehung davon ausgingen, deliktisch nicht zu haften und deshalb auch kein Schmerzensgeld zu schulden, ändert sich die Rechtslage also erheblich.

Gleichwohl ist dies ein längst fälliger Fortschritt, der jedenfalls nach dem 1.1.2002  - dem geplanten Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung -  für die Großschäden, auf die deutsches Recht Anwendung findet, eine spürbare Verbesserung der Geschädigtenposition darstellt. Die Frage des Immaterialersatzes beim Verlust von Angehörigen ist damit freilich noch nicht beantwortet; sie wird weiterhin problematisch bleiben.

Einem Teil der zu erwartenden Einwände begegnet der Bundesgesetzgeber ebenfalls  im Gesetzesentwurf zum 2.SchErsatzRÄndG. Bei diesen Reformvorschlägen ist durchaus die Versicherbarkeit des Risikos ein Argument, das in die Waagschale gehört. Sie wurde vom Gesetzgeber bei der Erweiterung des Nichtvermögensschadens gesehen. Gleichsam als Kompensation soll das so genannte Bagatellschmerzensgeld nurmehr unter strengeren Voraussetzungen zuerkannt werden, etwa auf Vorsatz des Schädigers.

Gravierende Probleme der gerichtlichen Praxis mit dem Hinterbliebenenschmerzensgeld sehe ich nicht.  Der Einwand unlösbarer Schwierigkeiten für die Justiz dürfte ins Leere gehen. Schon heute erfährt  § 847 BGB eine halbwegs einheitliche Anwendung durch die Gerichte; sie dürften auch im Falle eines eigenen Angehörigenschmerzensgeldes alsbald brauchbare Kriterien entwickeln.

Dafür spricht schon eine schlichte Beobachtung der Gerichtspraxis in Fällen mit Auslandsbezug: Interessanterweise sind deutsche Gerichte dann, wenn sie fremdes Recht anwenden müssen, durchaus in der Lage, auch ein Angehörigenschmerzensgeld unter Heranziehung der ausländischen Rechtsprechung festzusetzen. Das OLG Karlsruhe hatte jedenfalls vor einigen Jahren kein Problem damit, als es im Anwendungsbereich französischen Rechts einen Schmerzensgeldanspruch für den Verlust des Vaters in Höhe von FF 10.000,-- festsetzte.

Gegen den Vorschlag eines Hinterbliebenenschmerzensgelds dürften allenfalls Kostenargumente ins Feld geführt werden. Hier könnten zwei Einschränkungen zu einer vernünftigen Regelung führen. Es bestehen meines Erachtens grundsätzlich keine Bedenken, beim Hinterbliebenenschmerzensgeld eine Pauschalierung vorzunehmen und den Ersatz auf feste Beträge zu beschränken und zugleich den Kreis der Anspruchsberechtigten festzuschreiben.

Im Vereinigten Königreich bestehen solche Schranken seit 1991 kraft Gesetzes in Höhe von rd. 7.500 Pfund je Todesfall, anspruchsberechtigt sind nur engste Familienangehörige. In der Schweiz hat sich durch richterliche Fortbildung ein Betrag von 20.000 – 30.000 SFr für den überlebenden Ehepartner, von rd. 10.000 SFr je Kind herausgebildet.[26]

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4.         Fazit

Hier war nur Raum, wenige der aktuellen Probleme der Großschadensbewältigung anzusprechen. Fragen der Verfahrensorganisation (Sammelklagen, Musterprozesse) wären noch berichtenswert gewesen; auch die in der Vergangenheit gelegentlichen Eingriffe des Staats in die Abwicklung komplexer Schäden (CONTERGAN 1964 – 1971; BLUTERPRÄPARATE 1987[27]; HCV-Schädigung/ DDR 1979[28]) hätten noch Erwähnung verdient; schließlich auch die Versuche, Massenschäden mit Mitteln des Strafrechts zu bewältigen (CONTERGAN, HCV, XYLADECOR 1995). Für die Touristikbranche und die hier auftretenden Schäden dürften diese Modelle indessen hoffentlich weiterhin geringe Relevanz haben.

Was bleibt festzuhalten: Soweit wir unter Amerikanisierung des Schadensersatzrechts das Bedürfnis verstehen, weltweit auftretende Streitfälle möglichst vor US-amerikanische Gerichte zu bringen, so handelt es sich nicht um eine neue, aber um eine zunehmende Entwicklung. Ihr lässt sich durch das von R. Schmid angeregte verbesserte Krisenmanagement und die von D.Grathwohl soeben vorgestellte Versicherungslösung für dieses Management durchaus begegnen.

Der Zug vor amerikanische Gerichte wird indessen häufig von Fehlvorstellungen über das dortige Recht und seine Anwendung begleitet. Dabei dürfte die Zuständigkeit amerikanischer Gerichte künftig zur zentralen Frage für die damit betrauten Juristen werden.

Ob aber selbst ein obsiegendes Urteil, das Geschädigte vor einem amerikanischen Gericht erstritten haben, in Deutschland vollstreckbar ist, ist mit Rücksicht auf die gefestigte Rechtsprechung zur Anerkennung und Vollstreckung von Strafschadensersatzentscheidungen in Deutschland sehr fraglich. Gleiches gilt für exorbitantes Schmerzensgeld in US-Urteilen.

Alle diese Fragen im Rahmen der Abwicklung eines Großschadens bedürfen  der Befassung durch Spezialisten, der rechtzeitig hinzugezogen werden sollte. Auch darauf hat R. Schmid bereits hingewiesen. Damit können heutzutage nicht nur Juristen gemeint sein; Vertreter der Versicherungswirtschaft, Berater für Krisenmanagement, insbes. Medienexperten, Wirtschaftspsychologen, Ingenieure usw. zählen nicht minder dazu.

Für die nationale Rechtsordnung und internationale Abkommen verrät die magische Anziehungskraft amerikanischer Gerichte aber auch bestehende Defizite aus der Sicht von Opfern und Hinterbliebenen. Wir sollten uns diesen Fragen des Schadensersatz- und Schmerzensgeldrechts auch in Deutschland offensiv stellen und die rechtspolitische Debatte dazu aufnehmen. Im Rahmen eines europäischen Zivilgesetzbuchs wird diese restriktive, auch kunden- und verbraucherfeindliche Position des deutschen Rechts ohnehin kaum zu halten sein.

Die Katastrophen von Eschede, Paris und Kaprun bieten die Gelegenheit, eine  etwas in Vergessenheit geratene Diskussion um die Entschädigung von Hinterbliebenen wieder aufzugreifen und Korrekturen im eigenen Rechtssystem vorzunehmen Rund vierzig Jahre nach dem Auftreten und dreißig Jahre nach einer befriedigenden Stiftungs-Lösung des CONTERGAN-Komplexes   - seinerzeit führte der Schock dieses Großschadens bekanntlich nicht nur zur Einrichtung einer Stiftung zur Entschädigung Betroffener, sondern auch zur Schaffung des Arzneimittelgesetzes mit seiner Gefährdungshaftung -  scheinen die jüngst eingetretenen Großschäden einschließlich ihrer deutschen Opfer die längst fällige Diskussion auch bei uns zu beleben. Tourismuswirtschaft wie Verbraucherverbände sollten sich an ihr beteiligen. ·


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 Anmerkungen

 

1  Vgl. dazu Koch, Klagetourismus für höheren Schadensersatz bei Großschäden, in: Koch/Willingmann (Hg.), Modernes Schadensmanagement, Baden-Baden: NOMOS 2002 (im Erscheinen).

2  Womit zugleich auch das Krisenmanagement als Forschungsgegenstand der Touristik „entdeckt“ wird, vgl. etwa Dreyer u.a., Krisenmanagement im Tourismus, München 2001.

3  Dazu speziell Willingmann, Amerikanisierung des Haftungsrechts oder Globalisierung des Anspruchsdenkens, in Koch/Willingmann (Hg., a.a.O., (Fn. 1), im Erscheinen.

4 Einen knappen, instruktiven Überblick bietet Hay, US-Amerikanisches Recht, München 2000, S. 152 ff.

5 Ausführlich Koch/Willingmann, Großschäden und ihre Abwicklung, in: Koch/Willingmann (Hg.), Großschäden – Complex Damages, Baden-Baden 1998, S. 11, 24 ff.

6 Auch dazu Koch/Willingmann, a.a.0., (Fn. 5) S. 19, 24.

7 Zu Höhe und Hintergründen vgl. auch die knappe Darstellung bei Reimann, Einführung in das US-amerikanische Privatrecht, München 1997, S. 99 ff.

8 Vgl. Hay, a.a.O. (Fn. 4), S. 154.

9 Restatement (2d) of Torts, § 908.

10  Darum aber bemüht Mörsdorff-Schulte, Funktion und Dogmatik US-amerikanischer punitive damages, Tübingen 1999, S. 115 ff.

11  BGHZ 118, 312 = NJW 1992, 3096 = WM 1992, 1451 = ZIP 1992, 3096; BVerfGE 91, 335 = NJW 1995, 649 = ZIP 1995, 70. Zur BGH-Entscheidung vgl. auch die Anmerkungen von Bungert, ZIP 1992, 1707; Koch, NJW 1992, 3073; Deutsch, JZ 1993, 266; Koch/Zekoll, IPrax 1993, 288. Zur weiteren Entwicklung insbes. Koch/Diedrich, ZIP 1994, 183; Stadler, JZ 1995, 718.

12  Vgl. Hay, a.a.O. (Fn. 7), S. 61.

13  Ebenso Hay, a.a.O. (Fn 7), S. 62.

14  Vgl. ebenfalls Koch/Willingmann, Großschäden und ihre Abwicklung, a.a.O. (Fn. 5), S. 11, 16 ff.

15 Ausführlich dazu die Dissertation von Mörsdorff-Schulte, a.a.O. (Fn.10 oben).

16 Ausführlich dazu Krasney, Aufgaben eines „Ombudsmannes“ für die Opfer von Massenunfällen, in: Koch/Willingmann (Hg.), Modernes Schadensmanagement, a.a.O.(Fn. 1), im Erscheinen.

17  Bislang bewegt sich die Rechtsprechung in diesen Fällen bei ca. 10.000 – 25.000 DM.

18 Entschließung 75/7 des Ministerkomitees des Europarats v. 14.3.1975 über den Schadensersatz im Falle von Körperverletzung oder Tötung.

19 Deutscher Text in BGBl. 1976 II 323; dazu auch Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, Heidelberg 1993, S. 345 ff.

20 Dies beklagt nicht nur v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, München 1997, Rz. 402.

21 Erstmalig in BGHZ 26, 349; später stützte der BGH den Anspruch auf Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG, BGHZ 35, 363; 39, 124, 130.

22 Eine weitere Ausnahme stellt aber beispielsweise § 53 Abs. 3 LuftVG dar, sofern der Körperschaden durch ein Militärflugzeug verursacht wurde.

23 Gutachten A, in: Deutscher Juristentag (Hg.), Verhandlungen des 62.Deutschen Juristentages Bremen 1998, Bd. I, S. 30.

24 RGZ 65, 20; 112, 290; RG JW 1916, 488.

25 Zusammenfassend Müller, ZRP 1998,  S. 258, 260 ff.

26  Vgl. Kötz, Zur Reform der Schmerzensgeldhaftung, in: FS für v. Caemmerer (1978), S. 389, 406 ff.

27  Vgl. dazu Koch/Willingmann, a.a.O. (Fn. 5), S. 11 ff.

28  Dazu ausführlich Willingmann/Madaus, Funktionsnachfolge – Zur Haftung der Bundesrepublik für zivilrechtliche Verbindlichkeiten der DDR, NJ 1996, S. 505 ff.

© Der vorliegende Text wurde vom Autor bei einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Reiserecht anlässlich der Internationalen Tourismusbörse (ITB) in Berlin gehalten. Das crisadvice vorab von Professor Dr. Willingmann zur Verfügung gestellte erweiterte Manuskript soll in Kürze als Buchbeitrag im DGfR-Jahrbuch bei NOMOS erscheinen.

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